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Ist unser Bildungssystem für Grundschüler eine Katastrophe?Ist unser Bildungssystem schuld am Scheitern unserer Kinder? Was muss sich ändern, bevor es zu spät ist? Sind überforderte Lehrer, mangelnde Unterstützung und überfüllte Klassenzimmer nur der Anfang? Ein neuer Schulalltag in Sachsen-AnhaltIm August beginnt in Sachsen-Anhalt das neue Schuljahr. Für viele ABC-Schützen beginnt damit ein neues Abenteuer und ein vollkommen neuer Alltag. Aus den „behüteten“ Kindergärten und Tagesmüttern oder von zu Hause, in einen Schulalltag, der viel von ihnen abverlangt. - Still sitzen, zuhören, nur noch sprechen, wenn sie gefragt werden, und dann möglichst alles wissen und sich gut verständlich und sauber formuliert antworten. - Individuelle Lernerfahrungen der Vergangenheit sind hier vollkommen ignoriert. Alle Kinder haben gleich gut mitzukommen. Sie haben nicht zu hinterfragen, warum sie welche Übung auch immer zu tun haben, und wenn sie etwas nicht können, müssen sie zu Hause weiter üben, ohne Aussicht auf Erfolg. Unterschiede zwischen Kindergarten und SchuleDas ist aber vollkommen anders als das, was ein Kind im Alter von sechs oder sieben Jahren bisher erlebt hat. In den Kitas werden die Kinder individuell gefördert, sie können und dürfen sich selbst Schwerpunkte suchen, die sie gern machen, müssen nicht immer alles in der Gruppe erledigen, und wenn kleine Anna gerne malt und nicht mit Bauklötzen spielt, ist das in der Kita vollkommen okay. In der Schule muss Anna auch bauen. Von individuellem Lerntempo keine Rede. Herausforderungen beim SchuleingangDie Lernschablone muss auf alle Kinder passen, auch wenn das gar nicht gehen kann. Denn schon bei der Schuleingangsuntersuchung, die durch das Gesundheitsamt durchgeführt wird, sind signifikante Unterschiede zu bemerken. Die Rate der Kinder, deren „Baustellen“ hier aufgetan werden, kann in den 8-13 Monaten bis zur Einschulung kaum mehr aufgefangen werden. Ob da Logopäden, Ergotherapeuten oder gar Frühförderung noch viel reißen kann, ist wie ein Würfelspiel. Meist heißt die Antwort Nein. Unterschiedliche LernbedürfnisseWeiterhin weiß man heute, nicht zuletzt von Vorreitern für ein neues Schullernen wie Vera Birkenbühl, dass Jungen und Mädchen vollkommen verschieden lernen. Mädchen sitzen gern auf ihrem Popo, und Schönschreiben und Zeichnen liegt ihnen. Hingegen müssen Jungen sich bewegen, Buchstaben und Zahlen am besten ablaufen und mit ihren Händen arbeiten. Das jedoch ist in den wenigsten Grundschulen realisierbar. Schulgärten, Werkräume und große Sportplätze fehlen oft. Dafür gibt es viele Schulbänke, Zeichenunterricht und Hefte im A5-Format. - Die wenigsten Jungen tun sich mit den Schreibübungen leicht, und die Hausaufgaben daheim stellen nicht selten die Eltern vor Aufgaben, die nur mit Frustration enden. Schulentwicklungsgespräche und HerausforderungenDoch was dann? Im November spätestens laden die Schulen zu den Schulentwicklungsgesprächen. Man berät über die vergangenen Wochen und Monate, gibt Aussichten auf das Halbjahreszeugnis, und nicht selten sind alle Beteiligten ratlos. - Und ehe man sich versieht, ist das erste Schuljahr herum. Nun ist guter Rat teuer. Was macht man dann mit Kindern, denen das Lernen und Anpassen an die Umgebung Schule schwerfällt? - Es gibt da dieses tolle Konzept der SEP – Schuleingangsphase, die in Sachsen-Anhalt verpflichtend ist. Dadurch haben die Kinder die Möglichkeit, die ersten beiden Schuljahre auch in drei Jahren zu absolvieren. Das ist grundsätzlich nicht dramatisch; das machen ja genug Kinder. Die Schuleingangsphase (SEP) und ihre HerausforderungenAber wäre es für manches Kind nicht besser, wenn man nicht auf Krampf die SEP durchlaufen müsste, bevor es zu einer Lernmethodik kommt, die für das Kind angemessener wäre? Dies jedoch können nur Förderschulen leisten. Mit Klassengrößen, die überschaubar sind, individuellen Lernplänen für die Kinder und Hilfen oder Erklärungen, wenn Aufgaben nicht zu bewältigen sind. Auch das Unterbrechen durch Aufstehen oder Lernauszeiten sind hier gut möglich. Das kann eine Regelschule mit Klassenstärken von 25+ Schülern nicht leisten. Herausforderungen der RegelschulenDie Lehrkräfte der Grundschulen leisten Unglaubliches. Klassen mit wenigstens 25 Schülern in Räumen, die gerade groß genug für Tische, Stühle, Tafel und Materialschrank sind. Dabei sollen sie den wissbegierigen Kindern das Lesen, Rechnen und Schreiben lehren, dazu noch Sachunterricht, Zeichnen, Sport, Musik, Ethik oder Religion und Soziales Lernen. Der Stundenplan der Kinder ist viel im Klassenraum. Raus geht es nur in den Pausen, und die Hände sind meist nur mit Stiften und Schere beschäftigt. - Die Kinder sind müde, wenn sie nach Hause kommen, aber nicht, weil sie ausgepowert sind, sondern weil ihr Bewegungsbedürfnis abgetötet wird. Ideale SchulbedingungenWie wäre es ideal? - Zum ersten eine spätere Anfangszeit. 8 Uhr würde reichen. Beginnend mit einem gemeinsamen Frühstück, gefolgt von einer Bewegungseinheit, das muss kein Sport sein, das kann auch einfach nur ein Ballspiel sein, und auch keine 45 Minuten, eine Viertelstunde reicht vollkommen aus. Danach ein Ankommen im Klassenraum, dem gut zehn Minuten eingeräumt werden, und dann eine Kopfeinheit, das kann das Erlernen eines neuen Buchstabens sein oder eine neue Zahl. Das wird dann 20 Minuten geübt, darauf eine Bewegungseinheit mit dem Lernstoff. Beispiel: Stühle und Tische werden zur Seite geräumt, und auf dem Boden werden Zettel mit verschiedenen Buchstaben oder Zahlen gelegt. Die Kinder spielen dann ein Spiel, in dem sie das gelernte Zeichen finden und fangen. Im Folgenden eine kreative Stunde. Musik oder Ethik/Religion oder Zeichnen und dann das ausgiebige Mittagessen. Und dann 30 Minuten später eine weitere Kopfeinheit, in der das am Morgen Gelernte noch einmal vertieft wird. Das Lernen von Fächern in PhasenMan muss von dem Gedanken abkommen, dass ALLES auf einmal gelernt werden muss. Wer lernt denn gleich drei Fremdsprachen auf einmal? Oder lernt neben Chinesisch auch noch eine Programmiersprache und den Umgang mit einem neuen Grafikprogramm? Auch versucht man sich nicht, die Funktionsweise von drei verschiedenen komplizierten Geräten einzuprägen. Aber unsere Kinder sollen RECHNEN, SCHREIBEN und LESEN gleichzeitig lernen. - Warum nicht semesterweise lernen? Im ersten Halbjahr Mathe, mit Zahlen und Grundrechenarten Plus und Minus und im zweiten dann Lesen und Schreiben. Das verwirrt die Kinder weniger und überfordert sie auch nicht. Und dann würden viele einfacher das Klassenziel erreichen. Beispiele aus SkandinavienIn skandinavischen Ländern geht man sogar so weit, das gesamte erste Schuljahr nur mit Mathematik zu füllen. Die Kinder lernen die Zahlen von 0-9 und dann 10-100. Dazu kommt das Addieren erst im Zahlenraum bis 10 und dann 20 und das Subtrahieren im gleichen Raum. Im zweiten Schuljahr wird das Alphabet erarbeitet. Nicht mit Anlauttabelle, sondern in der Lautsprache. Im Viererblock, also großer und kleiner Schreibbuchstabe und großer und kleiner Druckbuchstabe. Dabei die Prämisse, dass alles, was das Kind notiert, auch in Schreibschrift erfolgt. Probleme der Bildungsreformen in DeutschlandIn Deutschland wird das mitunter jährlich geändert. Da gibt es in diesem Jahr die Vorgaben „Schreiben der Druckschrift“ und im Folgejahr muss dann unbedingt sofort mit der Schreibschrift begonnen werden. Dabei scheint den Mitarbeitern des Schulamtes der Grundsatz verloren gegangen zu sein, dass eine DRUCKschrift gedruckt wird und die Schreibschrift in der Regel eine Kursivschrift, also eine Handschrift ist. Gleiches gilt in der Mathematik. Da werden auf dem freien Markt den Eltern viele Hilfsmittel an die Hand gegeben, um den Kindern das mathematische Verständnis spielerisch einzuimpfen. Ob Würfelhausmethode oder Holzzahlen in verschiedenen Größen, die dann Logibrix heißen. Grundsätzlich sind die verschiedenen Hilfsmittel auch gut, aber warum werden diese Helfer nicht in den Schulen benutzt? Sie wurden mit Pädagogen entwickelt, sind in der Nachhilfepraxis und in vielen Haushalten schon seit Jahren erprobt. In den Schulen kennen die wenigsten Lehrer diese Helfer, die vielen Kindern helfen würden. Förderschulen und ihre RessourcenAnders sind die Förderschulen aufgestellt. Da sind nicht nur Lük-Kästen und Rechenstäbchen, sondern auch Logibrix, Würfel, Plastikobst und Bälle im Mathekabinett zu finden. Alles, was den Kindern hilft, Mengen zu erfassen und abstrakte Zeichen mit Masse zu verbinden. Stundenpläne, die eben das Gleichgewicht zwischen Primär- und Sekundärfächern halten, um allen Kindern besonders in den ersten Jahren gut gerecht zu werden. Der Wechsel zur FörderschuleDoch nun ist es so, dass es keine Schuleingangsphase in den Förderschulen gibt. Ein Wechsel in die Förderschulen ist erst nach drei Jahren in der Regelschule möglich, auch wenn bereits in den ersten Jahren in der Regelschule erkannt wurde, dass eine LB-Schule dem Kind am ehesten gerecht werden würde. Anträge an das Schulamt werden mit dem Verweis auf die Ausnutzung der SEP abgelehnt, und viele Kinder sitzen drei Jahre Zeit auf der Regelschule ab, in der ihnen das Lernen ganz vermiest wird, weil sie wenige bis keine Erfolge haben. Die Vision von Christian WalbrachWenn es nach Christian Walbrach, Behindertenbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt, geht, sollte der Wechsel in die LB-Schule noch schwerer werden und die Regelschule besser und individueller fördern. Seiner Meinung nach müsse man „an die Strukturen ran“. Das bedeute dann auch zu prüfen, ob es notwendig sei, „jeden Förderschultyp in der bisherigen Form zu erhalten“. Vor dem Besuch einer Förderschule mit Schwerpunkt Lernen sollten Kinder „die maximale Förderung in der allgemeinen Schule erfahren“. Doch in der Realität ist das nicht möglich. Mit einer Klassenstärke von 25 und mehr Kindern kann eine Lehrkraft auch bei aller Hingabe nicht bewerkstelligen, für alle Kinder einen individuellen Lernplan zu fahren. Die Förderschüler bleiben im Schulalltag leider auf der Strecke. Elternunterstützung und sozioökonomische FaktorenLernschwächen haben laut Walbrach häufig sozio-ökonomische Gründe, weil zum Beispiel die Eltern ihre Kinder nicht genügend unterstützen. Doch dies ist ein bequemer Gaul, auf dem er sich ausruht. Es ist auch für die Eltern, die keine pädagogische Ausbildung haben, sehr schwer, ihren Kindern adäquat zu helfen, Techniken zu nutzen, die sie selbst nicht erlernt haben, oder die sie durch eigene Lernerfahrung oder Migrationshintergrund nicht bedienen können. Förderschüler in Sachsen-AnhaltIm vergangenen Jahr besuchten 4.925 Schüler im Bundesland eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. Dies ist eine vergleichsweise kleine Zahl an Schülern. Das Land Sachsen-Anhalt hat 208.350 Schüler in allen Bildungsgängen. Wenn davon nur knapp 5.000 Kinder einer Förderung im Bereich Lernen bedürfen, ist dies recht wenig. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob die Dunkelziffer nicht viel größer ist. Sollte man hier nicht vielleicht auch die Anzahl der Schüler mit einbeziehen, die die SEP ausnutzen, weil ihnen adäquate Hilfe und Unterstützung in den Schulen fehlt, weil sie im Alltag der Schule oder von zu Hause nicht realisierbar ist? Grundschüler und die SEP77.436 besuchen in Sachsen-Anhalt die 496 Grundschulen. Man kann davon ausgehen, dass etwa die Hälfte der Schüler in der SEP sind. Alle diese Kinder haben die Möglichkeit, das Schuljahr SEP1 oder SEP2 zweimal zu absolvieren. Wenn man vom Landesdurchschnitt ausgeht, in dem Sachsen-Anhalt auf Platz 3 der Wiederholer in allen Jahrgangsstufen liegt*, sind ca. 2,7 % der Schüler in der SEP mit einem Förderbedarf. Das sind etwa 2.036 Schüler (aufgerundet). Diese Kinder haben KEINEN Anspruch auf einen Platz in einer Förderschule. Plädoyer für frühere FördermöglichkeitenGrundsätzlich wäre es viel sinnvoller, Förderschülern viel eher einen Wechsel in eine andere Schulform zu ermöglichen, als diesen zu erschweren. Denn nur wenn alle Kinder eine gute Chance auf Lernen haben und dabei auch ihre individuellen Bedürfnisse Beachtung finden, haben sie in ihrer Zukunft gute Voraussetzungen. - Dies geht aber nur dann, wenn das Schulsystem in Sachsen-Anhalt endlich beginnt, kindgerecht zu werden. Denn nicht die Lehrer oder Schulbuchverlage müssen es bequem haben; den Kindern sollte nach ihren Bedürfnissen Wissen vermittelt werden. Eine ausgewogene Bildung mit Werken, Schulgarten, Lernen außerhalb des Klassenraumes und mit ausreichend Bewegung und eigenständig gegliederter Lernzeit. Mit Lernen in klassenübergreifenden Lerngruppen, kürzeren Schulstunden und Schultagen, die den Biorhythmus der Kinder und Jugendlichen als Anhaltspunkt haben und nicht elterngefällige Betreuungszeiten beinhalten. In denen neben Unterricht auch Kurse für alle Jahrgänge mit interessantem Lernstoff angeboten werden. Mit gemeinsamen Mahlzeiten und viel mehr, das Schule zu einem gern gesehenen Bildungsraum macht. Privatschulen als VorbildDas geht nicht? - Doch, denn viele Privatschulen bieten genau solche Programme an. Sie sind im Ganztagsschulmodell und bieten den Schülern interessante, berufsorientierte Kurse, freie Lernzeiten und lehrbuchfreie Lernerfahrungen an. Aber dazu müsste der alte Esel, der den Bildungskarren zieht, gegen ein flottes neues Ross getauscht werden. - Änderungen können wir Eltern bewegen, wenn wir sie einfordern. Die Adresse des Schulamtes, der Bildungsministerien und die Ansprechpartner der einzelnen Institutionen sind leicht zu recherchieren. Ein Brief oder eine E-Mail sind schnell geschrieben. Für unsere Kinder sind wir als Eltern in der Pflicht, das Beste zu fordern und nicht still daneben zu stehen, wie unseren Kindern keine Grundlage für die Zukunft geschaffen wird. Denn unser Bildungsesel ist schwer krank und zittert stark vor seinem Karren, den er einen hohen Berg hochziehen soll. Quellen: Volksstimme - Förderschulen in Sachsen-Anhalt: Landesbeauftragter fordert bildungspolitische Trendwende Deutsches Schulportal - Die zehn wichtigsten Ergebnisse der PISA-Studie Statista - Anteil der Klassenwiederholer in Deutschland nach Bundesländern *Es gibt keinerlei statistische Erhebung, wie viele Kinder die SEP voll ausnutzen Verfasser: Nadja (Mutter) | 22.07.2024 |
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